Christoph Winkler
Elemente der Volkskunst im Werk von Woldemar Winkler
Seit ich denken kann, sind Werke der Volkskunst, Figuren und Schnitzereien, Teil des Lebens meines Vaters Woldemar Winkler. Das sind zum Beispiel Leuchterengel, Räuchermännchen, Nußknacker, Soldaten, Fahrzeuge, Pferdegespanne und Tiere aus dem Erzgebirge, aber auch andere Gegenstände aus vielen Ländern der Erde. Viele dieser Werke stehen im »Biedermeierzimmer« meines Elternhauses in den Regalen über den Fenstern und sind auch sonst im ganzen Haus verteilt. Einen Fisch gibt es da, den mein Vater sich während des Krieges als Tabakbehälter geschnitzt hat, oder Schachfiguren, von denen jede Figur ihren eigenen Charakter hat. Es gibt Holzlöffel, Scheffel, Salatbestecke mit Figuren, Leuchter und Holzdosen, zum Beispiel in Form eines Huhnes. All diese Dinge haben mich als Kind fasziniert, auch wenn sie nur angeschaut werden durften. Außerdem gab es einfache Häuser aus Holz mit Brandmalerei, Kasperlepuppen mit Holzköpfen, Figuren und Holztiere, die mein Vater selbst hergestellt hatte. Mit ihnen durfte ich als Kind spielen. Viele dieser Dinge sind bis heute erhalten.
1965
Mein Vater streifte mit mir und meiner Schwester oft durch den Wald, und wir sammelten interessante Äste und Wurzeln, in denen wir geheimnisvolle Wesen sahen. Hier und da mit etwas Farbe versehen, wurden sie zu einem sogenannten »Schlau«. (Als »Schlau« bezeichneten wir alles, was wir nicht genau definieren konnten.) Später nannte mein Vater diese Dinge dann »Allbedeut«, eine Bezeichnung, die er immer wieder verwendete. Noch heute gibt es schlangenartige Gebilde aus Wurzeln, die aus dieser Zeit stammen und in meinem Elternhaus aus einem Loch oder Riß eines Eichenbalkens krabbeln.
Schon früh fand mein Vater Zugang zur Volkskunst. Diese war zu seiner Jugendzeit, Anfang des 20. Jahrhunderts in Sachsen, schon durch die geographische Nähe zum Erzgebirge mit seiner künstlerischen Tradition bedingt, sehr verbreitet und geschätzt. Einen besonderen Bezug zu dieser Tradition hatte er aber auch durch seine Mutter, die aus dem Erzgebirge stammte. So erinnere ich mich, daß im Haus meiner Großeltern einige sehr alte Dinge dieser Region ihren Platz hatten. Nicht ohne Einfluß war auch das Dresdner Umfeld: Der Dresdner Striezelmarkt, der Weihnachtsmarkt auf dem Altermarkt mit seinen Lichterengeln, Räuchermännchen, Krippen, Weihnachtspyramiden und dergleichen müssen meinen Vater als Kind sehr beeindruckt haben. Beispielsweise fand sich bei der Auflösung des Dachkammerateliers in seinem Elternhaus im Jahr 2000 aus seiner Kindheit die kleine Plastik eines Waldmännleins, welche mit "Woldemar" signiert ist.
1965
Mein Vater hat den großen Einfluß der sächsischen Metropole Dresden und ihrer besonderen Atmosphäre auf sein eigenes Schaffen immer wieder hervorgehoben. 1982 schrieb er in einem autobiographischen Text: »Dresden hatte mit seiner Ausstrahlung schon immer eine andere Wesensart als viele andere Städte. Die kleinwüchsigen Sachsen, eine Mischung von slawischer und germanischer Rasse, haben eine entsprechend gefühlvolle Seele, die sich vom preußischen Charakter wesentlich abhebt. Es war immer ein armes, gedemütigtes Knechtsvolk. Seine versteckte Seele, die man suchen muß, tut sich bisweilen in der Kunst des Kleinen besonders hervor. Hirten- und Bergmannskunst, Bauernmalerei, später Porzellanmalerei "Meißen". Vielseitig und verästelt im Detail, im Kleinen, im Abseitigen, im Verträumten, im Vertieften, so spricht man gern von der kleinen sächsischen Seele, was nicht abwertend zu verstehen ist. Die Fähigkeit, Märchen zu erzählen, wird immer seltener. Der Glaube und die Faszination kindlicher Einbildungskraft schwinden in einer Zeit aufgeklärter Geistigkeit. Sie taucht noch auf bei einzelnen, die infolge ihrer Naivität verstehen, von der Norm abzuweichen, also ab-norm sind. Hier in Dresden konnte man noch manches Original dieser Begabung bemerken. Zumeist kamen sie fremd und unwissend aus den entlegenen erzgebirgischen Dörfern in die Stadt und hatten noch die nötige Hemmungslosigkeit, die man gewöhnlich nur noch bei Kindern und Geisteskranken beobachten kann.« 1
Die älteste erhaltene Plastik meines Vaters stammt aus dem Jahr 1922. Sie zeigt ein Huhn, das er aus einem Holzscheit geschnitzt hat. Schon hier werden seine Fähigkeiten im Umgang mit dem Schnitzmesser und der Farbe deutlich. Im selben Jahr nahm er als (junger) Schüler Carl Rades sein Studium an der Akademie für Kunstgewerbe in Dresden auf. Nebenbei verdiente er sich von 1922 bis 1926 etwas Geld als wissenschaftlicher Zeichner am Völkerkundemuseum in Dresden. Hier kam mein Vater mit der so genannten primitiven außereuropäischen Kunst in Berührung. Er zeichnete die Gegenstände auf Karteikarten und hatte dadurch die Möglichkeit, Herstellungstechniken und gestalterische Aspekte genau zu studieren. Das zu jener Zeit erworbene Formgefühl hat er auch später immer wieder eingesetzt. Er sagte einmal zu mir: "Mit den Augen darfst du stehlen!"
2000
1941 wurde mein Vater zum Kriegsdienst eingezogen; so kam er erst nach Polen und später nach Norwegen. Dort setzte er sich als Leiter der »Dienststelle für soldatische Werkarbeit im Abschnitt Mittelnorwegen in Bergen« erneut mit dem Thema Volkskunst auseinander. Seine Aufgabe war es, besonders begabte Soldaten anzuleiten, mit einfachen Mitteln Erinnerungsstücke an ihre »Norwegenzeit« herzustellen. Dabei waren ihm die einfachen Soldaten aus ländlichen Gegenden besonders lieb, die keinen großen künstlerischen Anspruch hegten. Zahlreiche Werke aus dieser Zeit sind in der Loseblattsammlung Soidaten Werken veröffentlicht. Auch wenn der Name Winkler hier nicht auftaucht, lassen viele Gegenstände erkennen, daß sie unter der Federführung meines Vaters entstanden sind. Bei ihnen spielt neben volkskundlichen Formen auch das Material Holz eine Rolle, bei dem die Maserung oft als gestalterisches Element einbezogen worden ist. Zum Ende des Krieges, in der Kriegsgefangenschaft, spielte der Aspekt des Neuanfangs im Unterricht der Soldaten, auch für meinen Vater selbst, in der eigenen Fortbildung seiner technischen Fähigkeiten, eine wichtige Rolle. Noch heute befinden sich viele Werke aus der »Norwegenzeit« in meinem Elternhaus, beispielsweise ein Spiegel mit durchbrochenem Rand, signiert und datiert »Wi 1943«. In der Nachkriegszeit trug der Verkauf kunsthandwerklicher Gegenstände nach Art der in Norwegen entstandenen Modelle zum Lebensunterhalt meiner Eltern bei.
1947 wurde mein Vater aus der Gefangenschaft in Norwegen entlassen. Da seine Existenz in Dresden durch den Bombenangriff im Februar 1945 völlig zerstört worden war, ging er nach Celle, wo er künstlerischer Leiter einer kleinen Werkstatt für kunsthandwerkliche Gegenstände wurde. Auch während dieser Zeit entstanden Leuchterengel, Holzbestecke, Schalen und ähnliche Gegenstände. Die Heirat mit meiner Mutter führte ihn 1949 nach Gütersloh. Hier setzte er sich erneut intensiv mit der Volkskunst auseinander, was sich in den von ihm angefertigten kunsthandwerklichen Gegenständen widerspiegelt. Ihre Formen erinnern immer wieder an seine Heimat Sachsen und die Volkskunst des Erzgebirges.
Anfang der 1970er Jahre bekam mein Vater einen Lehrauftrag an der Volkshochschule in Gütersloh, wobei er seine Fähigkeiten an interessierte Laien beim »Schnitzen mit Holz« weitergab. Anfang der 1980er Jahre beschäftigte er sich erneut mit dem Thema Volkskunst. Es entstanden menschliche Figuren und Tiere aus Papiermaché, welche farbig gestaltet wurden. Diesen gab er oft satirische Züge, so dem Räuchermännchen, mit dem er sich selbst porträtierte.
Auch in seinen Kunstwerken finden sich Elemente der Volkskunst wieder. Man sieht in ihnen, wie er eigene volkskünstlerische Arbeiten verändert und ihnen somit eine neue Identität gibt. Auch lässt sich die Formensprache ozeanischer und afrikanischer Kunstwerke, denen mein Vater in Dresden schon früh begegnet war und mit denen er in späteren Jahren seine Wohnstube schmückte, in vielen seiner plastischen Arbeiten erkennen.
Somit ist die Volkskunst, aber auch die frühe Begegnung mit »primitiver« Kunst im Dresdner Völkerkundemuseum für die künstlerische Entwicklung und das Schaffen meines Vaters von großer Bedeutung gewesen: Sie hat ihm stets als Quelle und Inspiration gedient.
1 Woldemar Winkler 1902-1982, Ausst.-Kat. Museum Bochum, Mönchehaus-Museum, Goslar, und Galerie Hachmeister und Schnacke, Münster 1982, o. S.