Milan Nápravník
Magie und Kunst
Der Ursprung der Kunst, der sich in die graue Vorzeit weit vor allen Zivilisationen verliert, ist und bleibt unergründbar. Den zahllosen und sehr unterschiedlichen Vermutungen, die diesbezüglich seit Jahrhunderten in Umlauf sind, mangelt es meist nicht an einem gewissen Maß an Wahrscheinlichkeit, aber gleichzeitig fehlt ihnen doch jede konkrete Beweiskraft. Da ist vom Nachahmungs- und Ziertrieb, vom Spieltrieb und von anderen mehr oder minder vagen Impulsen die Rede, auch von der Wirkung des Arbeitsrhythmus der ersten Handwerker, von Kommunikationszwang und dergleichen Dingen, die alle auf irgendeine Weise mit dem Phänomen Kunst zusammenhängen mögen. Doch es wäre müßig, eine von diesen Mutmaßungen über die andere zu stellen, denn der Versuch, die Vielfalt des Lebens in eine hierarchische Ordnung zu zwängen, führt immer in die Irre
Indes muß es gestattet sein, vom Standpunkt der Psychologie aus anzunehmen, daß die Kunst – wie jedes Produkt der Psyche – in zwei dialektisch zueinander stehenden, sich berührenden und sogar durchdringenden Bereichen wurzelt: im irrationalen und im rationalen Bereich, im Unbewußten und im Bewußtsein. Diese beiden Regionen, die sich zunächst einerseits in den primitivsten Ansätzen der Magie und andererseits im Nachahmungs- und Dekorationstrieb manifestiert, haben die Kunst auf zwei Wege geleitet, die sich häufig überschnitten und gleichsam gegenseitig potenziert haben, ihrer jeweiligen Funktion nach aber doch in zwei unterschiedliche Richtungen zielten. Während in der ersten Symbole, Fetische und magische Analogiebilder entstanden, wurden in der zweiten Abbildungen der Interessensobjekte des sinnlich-animalischen Daseins, Jagd- und Sexualobjekte beispielsweise, geschaffen, aber auch Ornamente und andere dekorative Aspekte der gegenständlichen Produktion.
Als sich in ersten Ansätzen die Zivilisation entwickelte und das Rationale sich zu emanzipieren begann, als die Arbeitsteilung die ersten sozialen Unterschiede hervorbrachte, war es mit dem hermaphroditischen Gleichgewicht der Psyche und damit auch dem der Kunst vorbei. Nach und nach wurde das ästhetische, das nachahmend dekorative Bewußtsein als das eigentliche Gebiet der Kunst postuliert; Schönheit – oder ihr Gegenteil (auch die Ästhetik des Häßlichen ist eine Ästhetik) – wurde, der jeweiligen Epoche entsprechend, in einer kanonischen Ordnung kodifiziert und diese als das höchste und einzige Kunstprinzip betrachtet. Das Ornament verselbständigte sich schließlich bis hin zur »Abstraktion«. Auf der einen Seite ist es das Kitschideal der klassischen Antike und auf der anderen die Verherrlichung der Abfallprodukte der spätbürgerlichen Epoche, welche die dekadenten Grenzen der europäischen Kunst markieren.
Die Sphäre des Unbewußten, das Magische und Irrationale, wurde dagegen mehr und mehr hinter die Grenzen dieser Kunstauffassung verbannt. Diese Sphäre stand den zivilisatorischen Tendenzen, der Fetischisierung von Besitz und Macht, unmittelbar im Wege. Daher verkam die magische Kunst im Laufe der Entwicklung der ersten religiösen Machtideologien rasch zu einer Kunst der Indoktrination. Mehr und mehr setzte sich, dank seiner praktischen Erfolge, das pragmatisch-rationale Bewußtsein gegenüber dem Unbewußten durch; statt Symbolen wurden Ideogramme, statt Analogien Allegorien, statt ideologiefreier Archetypen Götter und Heilige verbildlicht. Die magische Kunst – oder besser: die Kunst der Magie – fiel der Zerstörung anheim. Auf ihren Trümmern wucherten allenthalben hypostasierte Religionen: die Ikonographie.
Die dem magischen Unbewußten eigene Produktivität wurde also verdrängt. In der Geschichte der europäischen Kunst hätte sie ohnehin keinen Platz. Denn die Magie ist, wenn man auch krampfhaft versucht hat, viele von ihren Produkten als »Kunstwerke« auszugeben, keineswegs Kunst im abendländischen Sinne. Recht haben deshalb die akademischen Verfechter der »wahren Kunsttradition«, die sich gegen derartige Versuche zur Wehr setzten: In ihren phantasielosen Parkanlagen gibt es für diese Orchideen der Nacht keinen Nährboden. Vom schwachsinnigen Standpunkt des »rein Bildnerischen«, des Ästhetischen her betrachtet, existiert gar keine magische Kunst, denn es ist unmöglich, die irrationale Kreativität, die einzige echte Kreativität, die es gibt, einer kodifizierten Ästhetik zu subsumieren.
Wo derartige Versuch unternommen wurden, gab es nichts als Pleiten – interessante Pleiten vielleicht (der Duft des Wunderbaren ist ja abgeschwächt sogar noch bei einem formalen Abklatsch des Magischen wahrnehmbar), aber doch Pleiten, die stets in Sackgassen endeten. Es ist eine Tatsache, daß die Magie nicht in unsere verhängnisvolle Welt der technischen Zivilisation, des institutionalisierten Fortschritts und der fetischisierten Macht mit der ihr hörigen Kunst der Nüchternheit, der Schönheit und der Abscheulichkeit paßt, einer Kunst, die ganz und gar außerstande ist, Abwehrkräfte gegen die drohende geistige Erstarrung der Menschheit zu aktivieren. Nein, die Magie ist anderswo Zuhause, dort, wo das Leben noch seine ursprüngliche Kraft und seinen ursprünglichen Sinn bewahrt hat: in der Welt der spontanen Freiheiten und des schöpferischen Geistes, der leidenschaftlichen Liebeslust, der regellosen Spiele, der lustvollen Angst vor dem Unerforschten und der Begeisterung über das immanente Wunder des Lebens. Wenn das aber so ist, wenn man die Magie verfemt hat, wenn sie tatsächlich längst aus unserem Alltagsdasein verdrängt und verbannt ist: wie kommt es dann eigentlich, daß wir überhaupt etwas über sie und die ihr entspringende Kunst wissen? Daß wir über sie reflektieren können? Oder können wir das gar nicht?
Nur wenige von uns können es. Früher hätte man sie als Häretiker auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Heute, in »aufgeklärten« Zeiten, begnügt man sich damit, sie totzuschweigen, ihnen jede Möglichkeit zu nehmen, sich zu äußern, oder – falls das nicht gelingt – sie wenigstens lächerlich zu machen, zu bagatellisieren, zu verleumden und an den Pranger des Passéismus zu stellen. Der Prozeß der allgemeinen Verdummung der Massen mittels der »aktuellen« Kunst der Geistlosigkeit, die für die profitgierige, machtlüsterne Zivilisation des zwanzigsten Jahrhunderts als unerläßlich erscheint, darf um keinen Preis und durch nichts gestört werden. Zu diesem Zweck hat man den gesamten Apparat der Kulturindustrie der privat- wie der staatskapitalistischen Welt in Bewegung gesetzt und wacht streng darüber, daß das Sterilitäts- und Impotenzmonopol, über welches das pragmatisch-rationale Bewußtsein verfügt, unangetastet bleibt.
Nur wenige von uns können es. Doch die Naturgesetze der Mutation sorgen immer wieder dafür, daß Individuen geboren werden, die sich nicht anpassen können und bei denen, aller zivilisatorischen Zähmung und Normierung zum Trotz, der unbewußte Bereich unwiderstehlich an die Oberfläche drängt. Anders ausgedrückt: immer wieder wurden und werden Magier und Hexen geboren, immer wieder tauchen Gestalten auf, die mit Hilfe ihrer magischen Fähigkeiten uns alle vor dem völligen Untergang zu bewahren versuchen. Sie sind nicht zahlreich, und sie verstummen immer mehr, weil die Repressionsmechanismen unserer morbiden Zivilisation dank dem technischen »Fortschritt« immer subtiler und vollkommener werden. Wie Woldemar Winkler es einmal ausgedrückt hat: »Die Fähigkeit, Märchen zu erzählen, wird immer seltener. Die Faszination kindlicher Einbildungskraft und der Glaube an sie schwinden in einer Zeit 'aufgeklärter' Geistigkeit«, »in einer Zeit der Unterbewertung allen Gefühls, da die Welt auf (...) vordergründige Nützlichkeit abgestellt ist«. »Sie tauchen nur noch bei einzelnen auf, die infolge ihrer Naivität von der Norm abzuweichen verstehen...« Nun besitzt aber kein Magier die Kraft, eine Zivilisation zu retten, die aufgrund der ihr immanenten Entwicklungsgesetze zum Untergang verurteilt ist. Er kann seine magischen Kräfte in Form von Gedichten, von Bildern, von Tänzen, von Beschwörungen usw. einsetzen, aber machen wir uns nichts vor: Diese Kräfte haben stets nur eine menschliche Dimension, während die Kräfte des technischen »Fortschritts« diese Dimension längst hinter sich gelassen haben.
Wieviele sind wir eigentlich noch, die die Stimmen der Magier und der Hexen hören und verstehen können – hören und verstehen wollen! Wieviele sind wir, die – nehmen wir dies als Prüfstein – angesichts der Bilder des Magiers Woldemar Winkler ihr eigenes Unbewußtes mitschwingen zu lassen verstehen? Die seine Warnungen und seine Alternativvorschläge zum Leben entziffern können? Die das Lumpenkleid des pragmatischen Daseins abzustreifen und das Gewand der Poesie anzuziehen vermögen? Nur um glücklich zu sein. Nur um zu begreifen, daß der Stress unserer christlich durchtränkten Zivilisation verwerflich ist und daß man ihm vollständig entsagen muß, um eine Wende in der tödlichen Entwicklung dieser Welt herbeizuführen.
»Ich suche nicht nach ästhetischen Gesetzen«, erklärt Winkler, den der »Fortschritt« nicht aufhält, ganz unmißverständlich. »Es liegt mir nicht daran, Kunst oder schöne Bilder zu machen«, sondern »Löcher in die Logik zu stoßen« - in die Logik einer verkümmerten Welt, die den »Hunger nach dem Imaginären und nicht Meßbaren, dem Unergründlichen und dem Geheimnis« verdrängt und »die Faszination kindlicher Einbildungskraft« unterdrückt hat, Löcher in die Logik des modernen Homo faber, der mit dem Begriff »Magie« nur finsteren Aberglauben assoziiert, um desto leichter dem Obskurantismus seiner »Vernunft« zu verfallen. So ist Woldemar Winkler, der sich – wie die soeben angeführten Zitate andeuten – über das Paradigma der ästhetischen, »rein bildnerischen« Kunst entschlossen hinwegsetzt und seine Kunst als einen Zweig der Magie betreibt, ein verfemter Maler.
Damit befindet er sich freilich in bester Gesellschaft, derjenigen der poètes maudits von François Villon über Lautréamont bis zu André Breton. Mittlerweile gibt es Legionen solcher »ohnmächtiger« Genies, auf die sich letztlich unser Prinzip Hoffnung gründet. Nur, Legionen genügen nicht, denn gegen sie stehen ganze Armeen: die Armeen der Stumpfsinnigen. Jede Ausstellung von Werken eines Magiers wie Winkler ist eine Werbung für die Liebe, die Freiheit und die Poesie – nicht mehr und nicht weniger. Unter den Künstlern dieses Jahrhunderts finden sich nicht viele Magier; in Deutschland könnte man sie sogar an den Fingern einer Hand abzählen: Max Ernst, Hans Bellmer, Richard Oelze, Meret Oppenheim und ein paar andere vielleicht. Woldemar Winkler gehört, wie ich meine, dazu, auch wenn das bislang noch kein Spatz von den Dächern gepfiffen hat. Er gehört zu denen, die die Souveränität besitzen, unbeirrt gegen den breiten Strom der äußerlichen Moden und geistlosen Konformismen zu schwimmen. Doch wieviele sind hellsichtig genug, um dies zu erkennen?
»Die ernsthafte Beschäftigung mit Kunst«, notiert Winkler, und es versteht sich von selbst, daß er von magischer Kunst spricht, »wird in Zukunft eine herausragende und wachsende Bedeutung haben und in die unbewußten Bereiche der Gefühle führen. Die Kunst wird zum täglichen Brot gehören…« Wie sehr möchte man das hoffen! Aber deutet nicht alles darauf hin, daß angesichts der »totalen Zivilisation« einer Welt, »die sich... ständig bedrohlicher formiert« (Winkler), weit eher tiefe Skepsis am Platz ist? Nein, es gibt keine Rettung für uns.
Künstler und Lyriker, Köln – Prag, 1982/90