Sepp Hiekisch-Picard
Woldemar Winkler und der Surrealismus
Anmerkungen zu Genese und Rezeption seines Werkes
Der Surrealismus ist kein Kunst-Stil; womöglich noch durch akademische Schulung erreichbar. Viel eher ist er eine geheimnisvolle Kraft des archaisch-mystischen Unter- und Vorbewußten. Daher die erstaunlichen Reserven der Rückerinnerung an vergangene Ewigkeiten, mit dem Bück auf die imaginäre Zukunft. Der Surrealismus ist eher eine katalysierende Kraft, die der Kunst immer wieder neue Türen öffnet; zu Räumen, die uns Strahlendes – Schreckliches – Phantastisches – Erlösendes und Himmlisches erblicken lassen, wie wir es uns mit unseren an das Alltagssehen gewöhnten Augen nicht vorzustellen vermögen.
Woldemar Winkler, 1990 1
1 Woldemar Winkler in: Surrealisten. Ausstellungskatalog, Baukunst-Galerie, Köln 1999, o.S
Das Gesamtschaffen Woldemar Winklers, das einen Zeitraum von acht Jahrzehnten umfaßt, zeichnet sich allen durch äußere Ereignisse bedingten Brüchen, Akzentverschiebungen und Neuansätzen zum Trotz durch eine faszinierende Homogenität aus. Von den frühesten erhaltenen Zeichnungen und Lackarbeiten zu Beginn der 20er Jahre bis zu den jüngsten Bildern und Collagen... spannt sich ein Schaffensbogen, der nicht ohne Schwierigkeiten in Werkabschnitte und Perioden einer künstlerischen Entwicklung zu gliedern ist. Bereits in den 20er Jahren erscheint Winklers künstlerisches Wollen weitgehend ausformuliert und kunsttheoretisch reflektiert. Nach dem durch Nationalsozialismus und Kriegsdienst erzwungenen Stillstand entwickelt der Künstler seine Konzeption konsequent und weitgehend unbeeinflußt durch zeitgenössische Kunsttrends fort, seine Bildsprache wird dabei reifer, spielerischer, ironischer. Rückgriffe auf Früheres, Motivwiederholungen, Variationen und Zitate eigener Arbeiten verschmelzen Winklers Werk zu einer Geschlossenheit, die nur bei sehr genauem Hinsehen Ansätze für diachrone Schnitte, für eine Werkchronologie in beschreibbaren Phasen, bietet. Die Rezeption des Winklerschen Œuvres reagiert auf dieses Phänomen mit der Konstruktion des Stereotyps »Einzelgänger«, der in der Zurückgezogenheit seines provinziellen Domizils fast außerhalb der kunstgeschichtlichen Entwicklung zu stehen scheint. Andererseits ist sehr häufig eine eindeutige Zuordnung zum Surrealismus, der in dieser Perspektive mit einiger Unscharfe als stilgeschichtlicher Terminus gebraucht wird, zu konstatieren. Das Etikett »Surrealist« durchzieht die Rezeption Winklers seitens der deutschen wie auch internationalen Kunstkritik von Beginn an wie ein roter Faden. Eine Klärung dieser Zuordnung scheint nach wie vor geboten, um einen adäquaten Zugang zum Schaffen des Künstlers und zur Stellung seines Werkes zu erhalten.
Winklers Verhältnis zum Surrealismus und die Bedeutung surrealistischer Praktiken für sein Schaffen sind bereits Gegenstand ausführlicher Analysen 2 geworden, die sein Einzelgängertum und seine enge Verwandtschaft mit der Bewegung des Surrealismus sehr differenziert reflektieren. Es kann beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht mehr darum gehen, eine direkte Abhängigkeit, belegbare historische Kontakte und einen daraus resultierenden Transfer von Ideen, Gestaltungsmethoden oder Motiven surrealistischer Kunst auf das Schaffen Winklers zu konstruieren, in dieser Frage ist Heribert Becker beizupflichten: »Winkler also ein früher Surrealist? Nun, der Maler versichert glaubhaft, daß er seinerzeit kaum den Namen, geschweige denn das weitreichende Programm der in Paris gegründeten Bewegung gekannt habe – und das gilt wohl bis Ende der 40er Jahre, denn vorher hat eine deutsche Rezeption des Surrealismus ja nicht einmal ansatzweise stattgefunden... Aber der Surrealismus erschöpft sich bekanntlich nicht in seinen künstlerischen Aktivitäten, die er im Grunde sogar als nicht primär ansah. Dieser Ismus war ein organisiertes Kollektiv, dem es in allererster Linie um eine radikale Veränderung des Lebens und der Gesellschaft ging: La revolution d'abord et tou-jours! 3
2 vgl. Heiner A. Hachmeister: »Der Surrealismus und das Werk Woldemar Winklers«. In: Woldemar Winkler. Ausstellungskatalog, Hachmeister & Schnake Galerie, Münster 1980, o.S./Heribert Becker: »Zur Stellung von Woldemar Winklers Werk«. In: Frieder Schellhase/Heribert Becker (Hg.), Woldemar Winkler, Hamburg 1990, S. 22-36.
3 Becker, a.a.O., S.27.
Im Umkehrschluß allerdings den lebensphilosophischen Ansatz und die revolutionäre Weltsicht der Surrealisten einzig auf die in den surrealistischen Gruppen organisierten Mitglieder zu beschränken, wäre eine dogmatische Einengung, die den Zielen des Begründers und Theoretikers des Surrealismus, André Breton, widerspräche, der 1947 konstatiert: »Was das surrealistische Werk auszeichnet, ist vor allem der Geist, in dem es konzipiert worden ist. Handelt es sich um ein Werk der bildenden Kunst, so ist die Bedeutung, die wir ihm beimessen, entweder an die visionäre Kraft geknüpft, von der es zeugt, oder an den Eindruck organischen Lebens, den es in uns hinterläßt ... oder an das Geheimnis einer neuen Symbolik, die es in sich trägt...«. 4
4 André Breton: »Surrealistischer Komet« (1947). In: André Breton, Das Weite suchen, Frankfurt/Main, 1981, S. 85 f.
In einer solchen Perspektive lassen sich vielfältige Bezüge Winklers zu surrealistischen Schaffensprinzipien aufspüren, die eine Diskussion seines Werkes im Zusammenhang des Surrealismus rechtfertigen. Gerade der Vergleich zu parallelen Bestrebungen der Surrealisten in bezug auf die Verarbeitung von Traum und Zufall, zur Erforschung des Unbewußten und zur Konstruktion neuer Mythen kann den Blick schärfen für den Sonderweg Winklers. Woldemar Winkler wird dabei entgegen aller Rezeptionsstrategien des »Einzelgängers« auch in Zusammenhang mit der generellen Surrealismus-Rezeption in Deutschland zu bringen sein. Sie schafft die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sein Werk an die Öffentlichkeit gelangt und zur Diskussion gestellt wird.
Späte Anerkennung
Von wenigen Ausnahmen abgesehen setzt eine Rezeption der künstlerischen Arbeit Woldemar Winklers im deutschsprachigen Raum erst in der zweiten Hälfte der 60er Jahre mit seiner Ausstellung in der Galerie Brusberg, Hannover, ein. 5 Die Teilnahme an den großen Überblickausstellungen »Ars Phantastica« auf Schloß Stein bei Nürnberg und »Phantastische Kunst in Deutschland« im Kunstverein Hannover im Jahre 1967 sowie »Collage 67« in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus München, 1967, und die Einzelausstellung im Jungen Theater in Hamburg, 1970, begründen Winklers Ruf als bedeutender deutscher Vertreter imaginativer, surrealistischer Kunst. Der Künstler hat das 65. Lebensjahr bereits überschritten, als diese erste breitere Würdigung seines Schaffens einsetzt: »Ein Surrealist ganz eigener Prägung ist auch der aus Dresden stammende, seit Kriegsende in einem Dorf bei Gütersloh abseits vom Kunstbetrieb lebende Maler Woldemar Winkler... Seine Zeichnungen wirken märchenhaft, versponnen, traumverloren, entrückt, zugleich bedrängend, alptraumhaft, hintersinnig, entlarvend... Sein Duktus und seine Palette sind höchst originell, dabei typisch surreal in Stil und Charakter«, schreibt H. T. Flemming 1970 in seiner Rezension der Hamburger Ausstellung Winklers. 6 Sein Verweis auf den Surrealismus findet sich fast identisch in der enthusiastischen Rezension einer Winkler-Ausstellung in einer französischen Zeitung desselben Jahres: »Woldemar Winkler repräsentiert die surrealistische Bewegung in Deutschland mit Autorität... Winkler zählt zu den authentischen Surrealisten. Sein Werk kann Platz nehmen in der großen Ahnenreihe seiner Vorgänger: Yves Tanguy, Brauner, Max Ernst.« 7
5 In den 20er Jahren hatte Winkler auf Anraten seines Lehrers Carl Rade darauf verzichtet, sein Werk in Einzelausstellungen zu präsentieren. Die wenigen Rezensionen seiner Arbeit aus der Dresdner Zeit und die Reaktionen auf seine ersten Ausstellungen in Deutschland 1960 sind verzeichnet in: Schellhase/Becker, a. a. 0., S. 164f.
6 Hanns Theodor Flemming: »Woldemar Winkler im jungen Theater«. In: Weltkunst, Nr. 3, 1970, S. 93.
7 (P. A. C.): »De Winkler à Sedlacek. Exposition de deux peintres surréalistes«. In: Nice-Matin vom 20.8.1970 (Übers. v. Verf.)
In Frankreich hatte Winkler zu dieser Zeit bereits erste anerkennende Beachtung gefunden; der Galerist Alphonse Chave stellte ihn 1963 in seiner Ausstellung »Visionnaires, illuminés et voyants« in Vence dem französischen Publikum vor, seit 1964 präsentiert er Winklers Schaffen regelmäßig in Einzelausstellungen. Die Beziehung des Künstlers zum Barock und zur Romantik, das »deutsche« Element seines Traditionszusammenhangs erfährt aus französischer Sicht starke Aufmerksamkeit, seine Affinität zum Surrealismus durchaus unterstützend: »Winkler... ist keinesfalls nur Surrealist. Seine ungewöhnliche und manchmal groteske Sicht führt zu einer vollkommen andersartigen dichterischen Darstellung... Barock und minutiös, präzise und seherisch, ungewöhnlich grotesk und romantisch: Alles ist deutsch bei Woldemar Winkler«, charakterisiert der Kritiker Butheau den Künstler anläßlich seiner ersten Einzelausstellung in Vence 1964,8 eine Einschätzung, die in späteren französischen Rezensionen in abgewandelter Form immer wieder aufgenommen wird.
8 Robert Butheau in: Eugen Schmidt: Vorwort zu Woldemar Winkler. Ausstellungskatalog, Galerie Walther, Düsseldorf 1973, S. 6
Winklers späte Anerkennung in Deutschland geschieht nicht zufällig in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, sondern ist Bestandteil einer allgemeinen Neubewertung surrealistischer oder phantastischer Kunst, aus welcher zahlreiche Ausstellungen zum Surrealismus resultieren. 1966, im Todesjahr Bretons, ist ein erster Höhepunkt in der Rehabilitierung der jahrelang zugunsten informeller, tachistischer oder auch abstrakter Kunst ins Abseits gedrängten Bestrebungen des als literarisch geschmähten bildnerischen Surrealismus. Anläßlich der Ausstellung »Phantastische Kunst-Surrealismus« in der Kunsthalle Bern schreibt Harald Szeemann 1966: »Der Surrealismus wird heute in der ganzen Welt neu entdeckt. In Amerika ist gegenwärtig eine große Wanderausstellung von Magritte, in Venedig sind Ausstellungen von Brauner und Ernst, in Genf von Delvaux, in Japan Miró, die Dalí-Ausstellung in New York ging vor wenigen Monaten zu Ende, New York und Brüssel bereiten 30 Jahre nach der Pionierschau‚ Fantastic Art, Dada, Surrealism' wichtige Überblicksausstellungen vor. Gleichzeitig mit der Berner Ausstellung... wird in Berlin die Ausstellung >Labyrinthe – Phantastische Kunst< eröffnet.« 9 In Deutschland markiert vor allem die große Übersichtsausstellung »Ars Phantastica«, im Sommer 1967 von der Albrecht-Dürer-Gesellschaft auf Schloß Stein bei Nürnberg veranstaltet, eine neue Sichtweise imaginativer Kunst. 10
9 Harald Szeemann: »Phantastische Kunst – Surrealismus«. Ausstellungskatalog, Kunsthalle Bern, Bern 1966, o.S.
10 Ars Phantastica. Deutsche Kunst des magischen Realismus, phantastischen Realismus und Surrealismus seit 1945. Ausstellungskatalog Schloß Stein, Nürnberg 1967
Die Ausstellung, in leicht veränderter Form anschließend im Kunstverein Hannover gezeigt, versammelt Werke von 64 Künstlern, die als »Söhne des Surrealismus« ein breites Spektrum phantastischer und surrealistischer Kunst im deutschsprachigen Raum nach 1945 dokumentieren sollen, darunter: Hans Bellmer, Edgar Ende, Max Ernst, Horst Janssen, Richard Oelze, Franz Radziwill, Friedrich Schröder-Sonnenstern, Bernard Schultze, Heinz Trökes, Ursula, Mac Zimmermann, Unica Zürn und Woldemar Winkler, der mit Papierarbeiten vertreten ist, die sämtlich von der Galerie Brusberg zur Verfügung gestellt werden. Der Ausstellungskurator Reinhard Müller-Mehlis begründet im Katalogvorwort die Künstlerauswahl mit dem Anspruch, gegen das Verdikt, der »Surrealismus in Deutschland sei tot... (bzw.) diese Deutschen seien sämtlich Epigonen des längst erledigten Surrealismus« 11, eine umfassendere Sicht der verschiedenen Traditionslinien imaginativer deutscher Kunst zu entwerfen, die über den magischen Realismus der 20er Jahre und die naturmystischen Bestrebungen der Romantik weit in die Geschichte der Kunst, bis zum Manierismus, zurückreichen. Gerade in der Differenz zur stark theoretisierenden Surrealistenszene im Paris der Vor- und Nachkriegszeit sieht Müller-Mehlis das Spezifikum des deutschen Beitrags: »In der Geschichte phantastischer Malerei ergeben sich in neuerer Zeit nur selten Erscheinungen, die der Programmatik der Pariser Surrealismus-Bewegung einzuordnen wären. >Surrealismus< meinte eine anarchische Lebensform, die sich gegen jede herrschende Denkungsart richtete, gegen alle Wertsendungen, gegen allen Rationalismus, gegen Religion, Staat und Kirche... Wir scheuen daher in den meisten Fällen die Verwendung des Begriffes Surrealismus, weil kaum ein Werk das Ganze des Gewollten berücksichtigt. Trotz der Unbedingtheit des Anspruchs dieser Bewegung und ihres Verkünders blieben Ansätze und Teile des Programms in mehreren Ländern gegenwärtig, nicht nur in Europa. Deutschland war eines der wenigen Länder, in denen sich keine Gruppenbildungen ereigneten. Wer hier Surrealist war, blieb Einzelgänger – oder er ging nach Paris.« 12
11 a.a.O., o.S.
12 a.a.O.
Für einen kurzen Zeitraum erfährt der Surrealismus in Deutschland eine Renaissance; Kunstbetrieb und -markt bemächtigten sich zuvor vernachlässigter künstlerischer Tendenzen, deren irrationale Grundhaltung und Aufwertung des Unbewußten einer immer stärker werdenden Zeitströmung Ausdruck geben. Im Rahmen der gesellschaftlichen Umbrüche der späten 60er Jahre wird das revolutionäre und anarchische Potential des Surrealismus neben seinen ästhetischen Qualitäten wieder ins Bewußtsein gerückt. Seine fundamentale Zivilisations- und Rationalismuskritik dringt weit über die reine Kunstrezeption hinaus in den gesellschaftlichen Diskurs vor, ein Phänomen, das sich in den folgenden Jahrzehnten bis heute in abgeschwächter Form zyklisch zu wiederholen scheint.
Anfang der 70er Jahre kulminiert die »Surrealismus-Welle«: Bedeutende Retrospektiven der Klassiker dieser Bewegung – Max Ernst im Stuttgarter Kunstverein, André Masson im Ostwall-Museum in Dortmund, de Chirico in der Kestner-Gesellschaft, Hannover, Salvador Dalí in Baden-Baden, um nur die wichtigsten des Jahres 1970 zu nennen – dokumentieren das ungebrochene Interesse an surrealistischer Kunst in Deutschland, das die Kritikerin Gisela Brackert in ihrer Max-Ernst-Rezension resümiert: »(Es) läßt sich unschwer prophezeien, daß das Thema der Kunstgespräche 1970 die Auseinandersetzung mit dem klassischen Surrealismus sein wird, hinter dessen plötzlicher Aktualität mehr steht als nur das modische Bedürfnis nach Abwechslung: Der Surrealismus gilt als Protest-Stil; ob zu Recht oder zu Unrecht, wird zu fragen sein.« 13 In diese Phase einer Neubewertung surrealistischer Kunst fallen Winklers erste wichtige Ausstellungen und Erfolge auf dem Kunstmarkt in Deutschland, die den weiteren Weg der Rezeption seines Œuvres vorzeichnen: 1969 im Kunstverein Wolfsburg, 1972 in der Kunsthalle Bielefeld, 1973 im Gustav-Lübcke-Museum in Hamm und 1978 die erste Retrospektive in der Kunsthalle Recklinghausen – Ausstellungen, die von zahlreichen Galerie-Präsentationen und der Edition von Graphik-Auflagen 14 begleitet werden. Dem abebbenden Interesse am Surrealismus zum Trotz, dem viele Teilnehmer der »Ars Phantastica« zum Opfer fallen, die in Vergessenheit geraten, bleibt Winklers Werk in den folgenden Jahren im Ausstellungsbetrieb präsent: Umfangreiche Ausstellungen in Bochum 1982 und 1990, Hagen 1986, Albstadt, Hamm und Dresden festigen seinen künstlerischen Ruf ebenso wie Stipendien und offizielle Auszeichnungen. Im Kontext internationaler surrealistischer Kunst erfährt Winkler in der Ausstellung »Imagination – Internationale Ausstellung bildnerischer Poesie«, Museum Bochum, 1978, eine besondere Würdigung, die mit der Überblickschau »Aspekte imaginativer Kunst im 20. Jahrhundert«, Bochum, 1996, noch einmal unterstrichen wird. Unbeeindruckt von wechselnden Trends und Moden hat er in den drei Jahrzehnten der Rezeption seiner Arbeit in Deutschland eine Reputation erlangt, die ihn zwar nicht in den vorderen Rängen der Kunstmarkt-Favoriten etablierte, aber doch ein solides Fundament durch die Aufnahme in öffentliche Sammlungen wie z. B. Dresden, Bochum, Hamm, Hagen oder Albstadt legt. In Frankreich hält sich sein Ruf eines herausragenden Vertreters imaginativer Kunst, die ständigen Aktivitäten der Galerie Chave in Vence und große Ausstellungen in Montauban, 1990, und Issoudun, 1992, halten sein Werk präsent. Die Arbeit der Woldemar-Winkler-Stiftung der Sparkasse Gütersloh, 1994 gegründet, ist auf eine Vertiefung und Intensivierung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Schaffen des auch im hohen Alter noch aktiven Künstlers ausgerichtet, mit der mittel- bis langfristigen Perspektive, eine breitere Rezeption und eine angemessene Verortung seines Werks in der Geschichte der deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts anzuregen.
13 Gisela Brackert in: Das Kunstwerk, XXIII, H.7/8, 1970, S. 53.
14 vgl. Sepp Hiekisch-Picard (Hg.): Woldemar Winkler. Das graphische Werk, Köln 1997.
Dresdner Werke
Eine bedeutende Erweiterung und Vertiefung der Sicht auf Winklers Schaffen resultiert aus der stärkeren Einbeziehung der historischen Situation der Dresdner Kunstszene in den 20er und 30er Jahren. In den großen Retrospektivausstellungen in Bochum 1982 und 1990, in Albstadt 1995 und vor allem in den Dresdner Ausstellungen 1987 und 1992 erfährt das Frühwerk Winklers eine differenziertere Bewertung, die Beziehungen und Parallelen zur zeitgenössischen Kunst in der Elbmetropole aufzeigt. Der Stilpluralismus zu Beginn der 20er Jahre, als die nachimpressionistischen und expressionistischen Tendenzen an Bedeutung verlieren und der Verismus eines Otto Dix sich durchzusetzen beginnt, aber auch die Anregungen des Dadaisten Kurt Schwitters, dessen »Mystik im Müllkasten« 15 viele der jungen Künstler beeindruckt, hinterläßt auch im Schaffen Winklers Spuren. Die konstruktivistischen Experimente in der Mappe Formbauspiel aus dem Jahr 1925 und die kunsttheoretischen Gedanken, die Winkler 1929 niederschreibt, 16 deuten auf eine intensive Auseinandersetzung mit Bauhaus-Ideen hin. Das Dresdner Umfeld der 20er Jahre, in denen Woldemar Winkler sich »ohne große Erfahrung und besonderes Wissen, wahrscheinlich aber gerade dadurch mit heißem Herzen an die Front der modernen Kunst schlich« 17, eröffnet eine Perspektive auf sein Werk, die auch in historischer Hinsicht parallele Entwicklungen zum zeitgleich in Paris entstehenden Surrealismus feststellen läßt. 1924 veröffentlicht André Breton das erste surrealistische Manifest, zum selben Zeitpunkt charakterisieren Franz Roh und G. F. Hartlaub die neue deutsche Malerei als »Neue Sachlichkeit« und »Magischen Realismus«. Sachlichkeit und Surrealismus erscheinen nur auf den ersten Blick als gegensätzliche Positionen und Ausdrucksformen, reagieren doch beide Bewegungen, zum Teil mit nah verwandten Themenstellungen, Motiven und Motivkreisen, auf eine zwiespältige Realitätserfahrung nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs, in denen der Sinnzusammenhang der alten Wertordnungen zerbrochen war. Wieland Schmied stellt diese enge Verbindung in der Ausstellung und in seinem Katalogbeitrag »Neue Wirklichkeit – Surrealismus und Neue Sachlichkeit« heraus: »Der Titel dieser Ausstellung verbindet nicht nur die Begriffe Surrealismus und Sachlichkeit, er setzt sie auch in Beziehung zur 'neuen Wirklichkeit'. Er verweist damit auf die neuen politischen, sozialen, ökonomischen, intellektuellen Realitäten, denen sich der Künstler am Ende des Ersten Weltkriegs konfrontiert sah wie auf zwei gegensätzliche geistige Haltungen, mit denen er auf sie, auf die komplexen Phänomene und Zwänge der modernen industriellen Zivilisation reagieren konnte. Diese Haltungen waren auf der einen Seite die einer neuen Sachlichkeit, die den Ekstasen, Utopien und Illusionen des Expressionismus radikal absagte... Auf der anderen Seite – und in bewußtem Widerspruch zu allen realistischen Tendenzen – entwickelte sich die revolutionäre Kunst der Surrealisten, die sich im Paris der 20er Jahre um André Breton versammelten und sowohl mit neuen künstlerischen Techniken experimentierten als auch die Möglichkeiten politischer Aktion reflektierten. Die Surrealisten wollten mehr als nur auf die »neue Wirklichkeit« ihrer Zeit reagieren, sie bloßstellen oder verändern. Sie fanden – und erfanden – in ihrem Werk selbst eine neue Wirklichkeit, jene emphatisch proklamierte Einheit von innerer und äußerer Welt, von Bewußtem und Unbewußtem, von Traum und täglicher Faktizität. ... Diese Neukonstruktion der Realität erfolgt aus gegensätzlichen künstlerischen Positionen heraus: bei den Magischen Realisten in dem oft verzweifelten Versuch, die auseinanderfallenden Bruchstücke noch einmal zusammenzukitten und an das Bild einer einmal harmonischen Welt zu erinnern, bei einzelnen engagierten Malern der Neuen Sachlichkeit und des Verismus in dem Bemühen, die vielen Bruchstellen und Widersprüche unserer modernen Existenz sichtbar zu machen, bei den Surrealisten in der lustvollen Erfahrung des unauflöslichen Ineinander von Traum- und Tagwirklichkeit, innerer und äußerer Realität, Bewußtem und Unbewußtem.« 18
15 George Grosz in einem Brief an Willi Heymann, zit. in: Knust, Herbert (Hg.), George Grosz, Briefe 1913-1959, Reinbek 1979, S. 420.
16 vgl. Sepp Hiekisch-Picard: »Kunsttheoretische Gedanken Woldemar Winklers«. In: Woldemar Winkler. Die Gütersloher Zeit. Ausstellungskatalog, Gütersloh 1992, S. 93.
17 Woldemar Winkler in: Woldemar Winkler 1902-1982. Ausstellungskatalog, Museum Bochum, Bochum 1982, o.S.
Das Werk Woldemar Winklers in den 20er Jahren entsteht in diesem Spannungsfeld zwischen einer veristischen Gegenstandsanalyse und traumhafter Bilderfindung, hierbei durchaus einer nur wenig bekannten spezifischen Tradition Dresdner Kunst folgend bzw. diese maßgeblich beeinflussend, wie Werner Schmidt im Katalogvorwort zur ersten Ausstellung Winklers 1987 in Dresden - noch zu DDR-Zeiten – ausführt: »Sein Werk läßt die bisher unterschätzte Bedeutung des Surrealismus in der Dresdner Kunst des 20. Jahrhunderts klarer hervortreten. Diese Entwicklungslinie führt von den skurrilen Inventionen im späten Symbolismus, besonders bei Richard Müller, von den Studienjahren Kurt Schwitters' und George Grosz' über die Dada-Phase von Dix und Griebel, die Würdigung von Klee und Chagall, die Dresdner Jahre von Richard Oelze und Franz Radziwill zu Wols als Höhepunkt. Hans Grundig und Wilhelm Lachnit verarbeiteten Anregungen. Edmund Kesting und Hermann Glöckner beantworteten auf eigene Weise surrealistische Fragestellungen, später auch Willy Wolff, Albert Wigand, Hermann Naumann, Jürgen Seidel, Jürgen Schieferdecker und zahlreiche Jüngere. Die frühen Werke Woldemar Winklers aus den Jahren von 1920 bis 1928, die im elterlichen Haus in Zschieren das Bombardement Dresdens überstanden, entsprechen erstaunlich weitgehend dem Prinzip Max Ernsts: »Alle diese Arbeiten spielen mit dem Widersinn, den man gewöhnlich den Träumen zubilligte Dinge, Pflanzen, Puppen, Menschen und Tiere entziehen sich der Ordnung der Vernunft und den Gesetzen der Realität. Fremde Stoffe, Silberpapier, triviale Pappen, Fettflecke und Lack dringen in das Reich der Zeichnung ein.« Winkler gehörte damals zu den ersten Künstlern, die den Automatismus des Zufalls ästhetisch verarbeiteten.« 19
18 Wieland Schmied: »Neue Wirklichkeit – Surrealismus und Neue Sachlichkeit«. In: Tendenzen der zwanziger Jahre, Ausstellungskatalog, Berlin 1977, S. 4/1 ff.
19 Werner Schmidt in: Woldemar Winkler. Zeichnungen, Gemälde und Graphik. Ausstellungskatalog, Kupferstich-Kabinett der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Dresden 1987, S. 1.
Auf die überragende Bedeutung Carl Rades, bei dem Winkler seit 1922 an der Staatlichen Akademie für Kunstgewerbe in Dresden Malerei studiert und dessen Meisterschüler und Assistent er später wird, hat der Künstler selbst oft hingewiesen. Vor allem Rades Methoden, im Prozeß des Spiels aus dem Unbewußten Ansätze und Anregungen zur künstlerischen Arbeit zu ziehen, mit wenigen Formen und einfachsten Materialien zu experimentieren und das Medium der Collage einzusetzen, fallen bei Winkler auf fruchtbaren Boden. Zufall und automatische Bildherstellungsprinzipien finden sich in dem erhaltenen schmalen Bestand von Arbeiten dieser Jahre ebenso wie eine an der deutschen Romantik geschulte Landschaftsauffassung oder eine veristische Figuration. Neben dem Magischen Realismus und surrealistischer Bilderfertigung hält auch der Dadaismus Schwitterscher Prägung Deutungsmuster und die Möglichkeit einer Klassifizierung des Winklerschen Œuvres bereit: »Winkler spielt, im Sinne von Max Ernst, mit dem Widersinn sich fremd gegenüberstehender Wirklichkeitsausschnitte. Seine Kompositionen sind vielschichtig und von träumerischer Leichtigkeit. Aus den Trouvaillen des Ateliers entwickelte er seine Kompositionen – darin der Methode Kurt Schwitters' verwandt, der bis 1932 mehrfach in Dresden auftrat und dessen Merzbilder bereits 1921 vom Stadtmuseum gekauft wurden.« 20 Diese automatischen Bildverfahren und das »Prinzip Collage« erlauben einen Vergleich Winklers mit zentralen Gestaltungsprinzipien des Surrealismus.
20 Hans-Ulrich Lehmann: »Woldemar Winkler in Dresden«. In: Woldemar Winkler. Lebensspuren. Ausstellungskatalog, Galerie Rähnitzgasse, Dresden 1992, S. 9.
Spiel mit dem Zufall
Der Surrealismus setzt sich seit seiner Entstehung im Paris der 20er Jahre für eine umfassende Umwälzung der menschlichen Erfahrung ein. Die bisherige einseitig rationale Weltsicht soll grundlegend erschüttert und durch die Erforschung des Unbewußten, Triebhaften des Menschen abgelöst werden. Breton schreibt 1924 im ersten Manifest des Surrealismus: »Der Surrealismus beruht auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit gewisser bis dahin vernachlässigter Assoziationsformen, an die Allmacht des Traumes, an das zweckfreie Spiel des Denkens. Er zielt auf die endgültige Zerstörung aller anderen psychischen Mechanismen und will sich zur Lösung der hauptsächlichen Lebensprobleme an ihre Stelle setzen.« 21
21 André Breton: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek 1968, S. 26 f.
utomatische Schreib- und Bildverfahren dienen den Surrealisten, um zu den tieferen, unbewußten Schichten des Geistes vorzustoßen. Analog zur freien Assoziation der Freudschen Psychoanalyse ist die Gruppe um Breton in den 20er und 30er Jahren in Paris bemüht, die Kontrolle der Ratio, des »Ich« zu umgehen, um die Kräfte des Unbewußten stärker als die des Bewußtseins werden zu lassen. Die künstlerischen Techniken von Collage, Frottage, Coulage, Fumage etc. bilden das experimentelle Instrumentarium, um zum Unbewußten und vermeintlich Mythisch-Archetypischen vorzustoßen. Die Einbeziehung des Zufalls erweitert die Realität durch die Negation der Grenzen zwischen Geistigem und Materiellem, eine Art »Methodenkritik der Kreativität im 20. Jahrhundert«, wie Georg Jappe konstatiert: »Im Grunde wird von den Surrealisten die Hand als das Ich aufgefaßt, die Psyche als die Mutter und der Intellekt als die Vaterfigur, dessen gestrenge Kontrolle zu umgehen ist. Entweder durch Trance, Rausch, Meditation, so daß die Bilder des Unbewußten ‚automatisch' aus der Hand fließen, ohne daß sie »weiß«, was sie tut, oder durch Wachrufen der Materie, indem man vor allem Kinderspiele nutzt und durch Verstreuen von Sand, Durchreiben eines unterlegten Gegenstands, Abziehen von fließender Tinte, Pendelschwingungen einer durchlöcherten Farbdose, Ausgießen von flüssiger und Verreiben von pastenweicher Farbe oder durch verdecktes gemeinsames Zeichnen als auch mit dem Rauch einer Kerze Gestaltungen entdeckt, in die der Verstand mit seinen Normen von Logik und Geschmack nicht oder kaum eingreifen kann. Entscheidend für die historische Langzeitwirkung dieser 'Spielereien' mit dem Zufall: auf den Entscheidungsprozeß kommt es an, das Bildergebnis ist nur >Spurensicherung<.« 22
22 Georg Jappe: »Vernichtung der Alpträume. Der Surrealismus und die Folgen«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.1.1975./p>
Die Ausschaltung des kontrollierenden »Ich« erscheint als das surrealistische Ziel an sich, um die Befreiung des Menschen von den Fesseln des Verstandes voranzutreiben. Die Hingabe an den Zufall läßt in letzter Konsequenz einen umfassenden göttlichen Seins-Grund erahnen und kann als »ein Zeichen der Befreiung und Entgrenzung ins Kosmische und Mystische« aufgefaßt werden, wie rückblickend Hans Arp – damit den Surrealismus durchaus transzendierend – feststellt. 23
23 Hans Arp, zit. in: Gerhard Kolberg, »Der Zufall ist kein Traum«. In: Kölner Museums-Bulletin, Nr. 3, 1991, S. 22.
Winklers Schaffen, von den frühesten erhaltenen Arbeiten der 20er Jahre an bis zu den jüngsten Collagen und Assemblagen, ist mit diesen surrealistischen Gestaltungsprinzipien zwar vergleichbar, sein spezifischer künstlerischer Standort jedoch ist von Beginn an nicht kongruent mit dem theoretischen Konzept und dem künstlerischen Ansatz der Gruppe um Breton.
Auf die Frage nach der Bedeutung des Zufalls für sein Schaffen antwortet Woldemar Winkler 1992: »Eine ganz große Rolle spielt der Zufall, und ich meine immer, es fällt mir auch etwas Besonderes zu... der Zufall schafft Bestimmtes. Dann wird etwas Geistiges in Bewegung gesetzt, die Imagination. Dann entsteht da etwas. Ganz ohne Denken geht es nicht ab, aber das Denken ist kein Vor-Denken, sondern eher ein Nach-Denken... Der Denkanstoß ist nicht vordergründig. Es wird ausgelöst unter Umständen. Durch den Zufall kommt uns dann etwas entgegen, eine Erscheinung oder wie immer Sie das nennen wollen. Und dann kann man korrigierenderweise auch mit dem Verstand arbeiten.« 24
24 Woldemar Winkler in: Die Gütersloher Zeit, a. a. 0., S. 45 f. 1991, S. 22.
Eine Möglichkeit, den Zufall fruchtbar zu machen, stellen die Ausdrucksmittel der Collage und Assemblage zur Verfügung, die gerade auch für den Surrealismus von fundamentaler Bedeutung sind. Die Abkehr von einer zweckhaften Verwendung der Objekte sowie Realitätspartikel in der zweidimensionalen Collage und in der dreidimensionalen Assemblage hat Kurt Schwitters in seinen Merzbildern zu Beginn der 20er Jahre entwickelt. Seiner Materialästhetik nähern sich bereits einige Werke Winklers aus der Dresdner Zeit, im Spätwerk läßt sich dann ein erstaunlich freier und souveräner Umgang mit Alltagsmaterialien und Abfallobjekten feststellen, die vor allem in den Zeitungscollagen eine enge Nachbarschaft zum Schwitterschen Collagewerk dokumentieren.
»Das Hantieren mit ungewohntem Material und die sich ergebenden Überraschungen bei ihren seltsamen Verbindungen schaffen außerordentlich starke Anregungen. Den Glanz des Wunderbaren, der sich dabei einstellt und nicht erfunden werden kann, zu lenken, sichtbar zu machen, zu steigern und zu einer Einheit zu verschmelzen, ist die gestalterische Aufgabe. Die Collage ist ein Mittel, auf technischem Wege ausgefahrene Gleise zu verlassen, um neue Geheimnisse zu entdecken.« 25
25 Woldemar Winkler in: Collage 67. Ausstellungskatalog, Stadt. Galerie im Lenbachhaus, München 1967, S. 105.
Für Woldemar Winkler ist das Collageverfahren ein technisches Mittel, um gestalterisch neue Wege zu gehen; der Zufall ein Vehikel, um aus der gewohnten Schaffensbahn auszubrechen. Doch ist es nicht mehr als ein technisches Instrument unter anderen Ausdrucksmitteln, die dem Künstler zur Verfügung stehen. Bereits in einem zum Teil verschollenen, 1929 verfaßten und unveröffentlichten Typoskript 26 reflektiert und analysiert Winkler die Bedingungen künstlerischer Gestaltung, die Freiheit und die Verantwortung des Künstlers. Sehr differenziert unterscheidet der Text die Möglichkeiten von offener und geschlossener Form, schwebender Form, Durchgangsform, Tätowierung, Stilisierung und den drei Wegen ihrer Ableitung: abstrakt, von der Form zum Gegenstand und vom Gegenstand zur Form. Ebenso ausführlich wird das Malerische als Formfunktion, innerbildliche Bewegung, als Farb- und Lichtfunktion dargestellt, um im zweiten, verschollenen Band zur Farb- und Malereitheorie verdichtet zu werden. Der Abschnitt »Gestaltungsfreiheit« konstituiert den Bildraum als ein imaginativ-phantastisches Feld, in welchem weder Gesetze der Logik noch der Physik, sondern einzig künstlerische Gesetze herrschen: »Er (der Künstler) darf alles, solange er damit innerhalb künstlerischer Gesetze bleibt. Natürlichkeit, Wahrscheinlichkeit, Behaglichkeit usw., das und anderes hat über sein Gestalten keine Macht. Also wunderbar und fabelhaft, besonders und märchenhaft-verbunden darf Formwelt sein. Wunder und Märchen sind selber ja Hochgebilde der Kunst und bei aller Freiheit künstlerischem Gesetze unterworfen. Der Bildner darf dem allem weiterhin folgen, nicht um Eigenart, Einzigartigkeit, Wunder und Phantasma zu verkrampfen, sondern der Gestaltung zuliebe. Je abstrakter der Künstler schafft, nur mit Gegenstandsform-Elementen und Verbindungen im Dienste reiner Kunstform, umso besser.« 27
26 vgl. Hiekisch-Picard: »Kunsttheoretische Gedanken ...«, a.a.O.
27 27 Die Gütersloher Zeit, a. a. 0., S. 101.
Im Kern ist Winkler diesen fragmentarisch erhaltenen Forderungen und Gestaltungsprinzipien sechs Jahrzehnte lang gefolgt. Im Unterschied zu den Vertretern des Surrealismus bemüht er sich nicht um eine zunehmende Verdunklung und Irrationalisierung des »Ich«, sondern er sucht in der von äußeren logisch-rationalen und abbildhaften Zwängen befreiten Gestaltung die Grenzen von Bewußtsein und tieferen psychischen Schichten durchlässig zu machen, er will aus der »Unteilbarkeit seines ganzen Seins« schaffen.
Sein Werk gleicht einem Balanceakt, der die polaren Kräfte von Ratio und Unbewußtem, von Planung und Zufall, Ordnung und Chaos ausgleicht. Winkler spielt mit den Kräften des Irrationalen und Abgründigen, einem Zauberer vergleichbar, wie ihn Sigmund Freud als Vorstufe des modernen Künstlers und als Bewahrer animistischer Allmachtsgedanken aus früheren Zivilisationsstufen charakterisiert: »Nur auf einem Gebiete ist auch in unserer Kultur die Allmacht der Gedanken erhalten geblieben, auf dem der Kunst. In der Kunst allein kommt es noch vor, daß ein von Wünschen verzehrter Mensch etwas der Befriedigung Ähnliches macht... Mit Recht spricht man vom Zauber der Kunst und vergleicht den Künstler mit einem Zauberer. Aber dieser Vergleich ist vielleicht bedeutsamer, als er zu sein beansprucht. Die Kunst, die gewiß nicht als l'art pour l'art begonnen hat, stand ursprünglich im Dienste von Tendenzen, die heute zum großen Teil erloschen sind. Unter diesen lassen sich mancherlei magische Absichten vermuten.« 28
28 Sigmund Freud: Totem und Tabu, Frankfurt/Main 1956, S. 7.
Im Werk Woldemar Winklers scheint etwas von diesen erloschenen magischen Tendenzen auf, angereichert durch seine vielfältigen Erfahrungen und Bezugnahmen auf künstlerische Ausdrucksformen psychisch Kranker, angeregt durch Prinzhorns Beispiel, oder auch durch die sogenannte »primitive« Kunst der Stammesvölker 29. Auch die Märchenwelt seiner Kindheit, die Tradition der Dresdner Romantik wie die Verspieltheit und überbordende Fülle der Barockbauten der sächsischen Metropole vervollständigen das Reservoir, aus dem der Künstler ein Leben lang schöpft.
29 In seiner Studienzeit in Dresden betätigte sich Winkler als Zeichner für das Völkerkundemuseum. Er dokumentierte vor allem ozeanische und afrikanische Skulpturen.
Letztlich ist die Frage der Zugehörigkeit Winklers zum Surrealismus nicht eindeutig zu entscheiden, denn den theoretischen Anforderungen surrealistischer Dogmen kann und will der Künstler nicht gerecht werden, obwohl ihn sein Interesse an primitiver Kunst, die sexuelle Symbolik in zahlreichen Werken und die automatische Schaffensweise auf der phänomenologischen Ebene als Vertreter des Surrealismus ausweisen könnten. Aber vielleicht ist sein Werk gerade deshalb »surrealer« als das Werk mancher Mitglieder der Gruppe um André Breton, wie das hier abschließend zitierte, auf Max Ernst und Luis Buñuel gemünzte Urteil des mexikanischen Romanciers Carlos Fuentes nahelegt: »Auffällig ist, daß die französischen Theoretiker des Surrealismus selbst dann schöne Essays und andere Texte in einer kartesianisch klaren Sprache hinterlassen haben, wenn sie nach einer automatischen Schreibweise und dem >Entgrenzen aller Sinne< verlangten. Von der Provokation abgesehen, scheinen die französischen Surrealisten ihre rationalistische Kultur nicht aufs Spiel zu setzen und geben ihr auch nicht den Anhauch jenes Wahnsinns zurück, der Rabelais und Villon beseelt haben muß. Es sind jene Surrealisten, die ohne Theorie und intuitiv vorgehen, wie etwa Buñuel in Spanien und Max Ernst in Deutschland, denen es gelingt, ihre Kultur in ihre Kunst einzubringen, womit sie der Vergangenheit eine kritische Aktualität verleihen und die historisch widernatürlichen Grenzen der modernen Neuerungssucht aufzeigen. Alles ist in weit zurückreichenden Erinnerungen und in Böden einer alten Geschichte verwurzelt. Wenn man sie aufwühlt, taucht die wahre Moderne hervor: die Gegenwart der Vergangenheit, die Warnung vor dem Hochmut des Fortschritts. Die spanischen Mystiker, die Schelmenromane, Cervantes und Goya waren die Väter des Surrealismus Buñuels, ebenso wie die nächtliche, grausame und überschwengliche Phantasiewelt des deutschen Märchens die Mutter Ernsts war.« 30
30 Carlos Fuentes: Diana oder die einsame Jägerin, Hamburg 1996, S. 174.
Woldemar Winkler, der nicht nur wegen seiner persönlichen Bekanntschaft mit Max Ernst oft mit diesem bedeutenden Vertreter des klassischen Surrealismus in Zusammenhang gebracht wird, läßt sich nicht als »Surrealist« klassifizieren. Sein Werk, das bereits vor dem Entstehen der surrealistischen Bewegung zu eigenständigen Resultaten gelangte und nach deren Ende noch fortdauert und sich weiterentwickelt, behauptet bei aller Affinität zu den Ideen der Surrealisten einen Platz außerhalb dieser für die Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts eminent prägenden Bewegung – nicht als Einzelgänger, vielmehr als Fortführer und Mitgestalter einer im Grunde romantischen Tradition, wie sie in Deutschland beispielhaft von Max Ernst und Richard Oelze vertreten wird. Hier könnte der Ansatz gefunden werden, Winklers spezifischen Beitrag zur deutschen Kunst des 20. Jahrhunderts einer adäquateren Einschätzung zuzuführen.
Autor und stellvertretender Direktor des Museums Bochum